NDL Masterstudiengang Neuere Deutsche Literaturwissenschaft Arbeitsgruppen & Projekte Produktive Rezeptionen
Wirkliche Äpfel – Ein Dialog über Wahrnehmung bei Rilke und Cézanne

Wirkliche Äpfel – Ein Dialog über Wahrnehmung bei Rilke und Cézanne


Person 1:
Ich verstehe nicht, was Cézannes ‚réalisation‘ bedeutet, für mich malt er bloß Äpfel.

Person 2:
Nein, das siehst du falsch, denn Cézanne gibt den Dingen ihre zuvor geraubte Wirklichkeit zurück.

Person 1:
Aber Apfel ist doch Apfel!

Person 2:
Nein, ein Apfel wird erst durch Cézanne wieder Apfel.

Person 1:
Und woran erkennt man das?

Person 2:
Na, das sieht man doch!

Person 1:
Aber wir reden doch nicht mal von einem echten Apfel, sondern bloß von einem Bild von einem Apfel. Das Bild kann doch höchstens ein Zeichen eines Apfels sein bzw. diesen repräsentieren.

Person 2:
Ja, aber die Bilder Cézannes schaffen mehr als das: Sie repräsentieren nicht nur eine Wirklichkeit, sondern haben ein eigenes Leben.

Person 1:
Ach, die Bilder leben?

Person 2:
Ja genau.

Person 1:
Wie jetzt, und die Bilder Rembrandts haben kein eigenes Leben? Bilder sind doch Bilder, Farbe auf Leinwand, materiell und greifbar. Bilder kann man aufhängen. Meinst du das damit, wenn du sagst, dass die Bilder Cézannes leben?

Person 2:
Ne. Die Bilder Cézannes bilden keine Dinge ab, sie selbst sind Dinge, sie haben ihre eigene Wirklichkeit. Dahinter gibt es keine wirklichere Wirklichkeit. Das hat auch was mit Hofmannsthal Sprachkritik zu tun.

Person 1:
Ja macht ja auch Sinn. Bild ist Bild, Farbe auf Leinwand. Apfel ist Apfel, Fruchtfleisch an Stängel. Wo ist hier die große Erkenntnis?

Person 2:
Die Wirklichkeit der Kunstwerke als Gegenstände lässt sich nicht ins Begriffliche übertragen, das sagt zumindest Rilke.

Person 1:
Aha.

Person 2:
Jup.

Person 1:

Person 2:
… 😊

Person 1:
Das finde ich irgendwie schwer begreifbar.

Person 2:
Und genau das macht die Wirklichkeit der Bilder aus.

Person 1:
Und woran lässt sie (also die Wirklichkeit der Kunstwerke als Gegenstände) sich dann erkennen, wenn nicht durch die Sprache?

Person 2:
Durch eine gewisse Form der Wahrnehmung. Eine Art Unvoreingenommenheit, eine Lossagung der subjektiven Assoziationen und der Ästhetisierung der Welt, die im Alltag ständig geschieht. Der Mensch verfremdet die Dinge durch seine Wahrnehmung. Aber durch eine bestimmte Wahrnehmung können die Dinge wieder entfremdet werden.

Person 1:
Also soll man unmenschlich wahrnehmen?

Person 2:
Nein, eher ent-menschlicht.

Person 1:
Und was haben wir dann davon?

Person 2:
Wir geben den Dingen ihre Wirklichkeit zurück.

Person 1:
Heißt das, ich darf nicht an einen Apfel denken, wenn ich ein Bild von Cézanne betrachte, auf dem ein Apfel zu sehen ist?

Person 2:
Doch, aber es kommt drauf an, wie du an einen Apfel denkst.

Person 1:
Ok. Aber ist es dann nicht auch egal, wie das Bild gemalt ist?

Person 2:
Wie meinst du das?

Person 1:
Naja, worin liegt die Kunst, ein tolles Bild von Äpfeln zu malen, wenn es auf das Vorwissen des Rezipienten ankommt, wie man das Bild zu verstehen hat? Steht das Bild dann nicht doch wieder als Repräsentant für etwas? Nicht als Zeichen für einen Apfel, sondern für eine Wahrnehmungslehre, die wir hier gerade diskutieren?

Person 2:
Ne, für Rilke sind es ja gerade die Bilder Cézannes, in ihrer farblichen Umsetzung und generellen Gestaltung, die für ihn eine solche Wirkung ausgemacht haben. Außerdem ist Rilke fast zwei Woche täglich zu dieser Ausstellung im Grand Palais gegangen, das muss schon was heißen. Es schien von Bedeutung für ihn zu sein, sich diese Bilder anzuschauen, oder anders formuliert: Die Bilder Cézannes vermitteln eine Bedeutung, und das als nicht-sprachliche Produkte.

Person 1:
Das ist ja alles schön und gut. Aber ich verstehe nicht, was mir das alles jetzt sagen soll. Habe ich etwa einen falschen Blick auf die Welt? Muss ich jetzt was ändern?

Person 2:
Ich glaube, du denkst zu weit und versuchst ein ästhetisches Konzept mit einem Lebensratgeber gleichzusetzen. Cézannes ‚réalisation‘ bezieht sich auf ein Experiment einer künstlerischen Praxis. Rilke hat sich davon inspirieren lassen und auch Rückschlüsse auf sein eigenes Schaffen als Schriftsteller gezogen. Davon ausgehend kann eine Diskussion über Wahrnehmung, das Verhältnis von Subjekt und Objekt und von Natur und Kunst geführt werden. Du kannst weiter ganz normal an Äpfel denken. Aber ja, du hast recht, nur durch den Kontext moderner Reflexion auf Wahrnehmung lassen sich Cézannes Bilder verstehen und einordnen, das sagt zumindest der Philosoph Merleau-Ponty.

Person 1:
Na, zum Glück studiere ich nicht Kunstwissenschaft!

Person 2:
Und was studierst du?

Person 1:
Na, Literaturwissenschaft natürlich!

Person 2:
Tja, dann viel Spaß mit Rilke!


Autor: Matthias Linke